Oppositioneller Protassewitsch im RT-Gespräch: Sanktionen drängen Weißrussland in die Arme Moskaus
Ende Mai ging der Name des weißrussischen Telegram-Journalisten Roman Protassewitsch um die Welt. Da ihm von weißrussischen Behörden die Mitverantwortung für Massenunruhen zugeschrieben wird, wurde er während einer Zwischenlandung in Minsk von der Polizei verhaftet. Die Opposition und der Westen warfen weißrussischen Behörden das als Entführung vor und es folgten Sanktionen gegen die weißrussische Luftfahrtbranche.
Protassewitsch sowie alle anderen Journalisten und politischen Gefangenen in Belarus müssten "umgehend und bedingungslos" freigelassen werden, forderten damals auch die Außenminister der G7-Staaten. Zwei Monaten nach dem Vorfall ist Protassewitsch aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Er wohnt mit seiner Freundin unter Polizeiaufsicht in einem Haus bei Minsk. Er betreibt wieder seinen Twitter-Kanal und antwortet gern auf Interview-Anfragen. Am Dienstag sprach Protassewitsch mit dem Korrespondenten der russischen RT-Redaktion Konstantin Pridybajlo.
In dem Interview versichert der Journalist, es gehe ihm gut und er kooperiere freiwillig mit den Ermittlungsbehörden – eine Äußerung, die seine ehemaligen Mitstreiter aus der Opposition für unglaubwürdig halten. Protassewitsch berichtet, dass ihm sogar seine Eltern "kein einziges Wort" glauben. Sie seien in Warschau stark durch Oppositionelle im Exil, Journalisten und polnische Politikern beeinflusst, beklagt er. Auch Videotelefonie würde nicht helfen:
"Mama, hallo, alles ist in Ordnung. Nein, du wirst gefoltert, nein, hier ist es schlimm, nein, du wirst gezwungen, du hast fast Maschinengewehre hinter deinem Rücken und so weiter."
Auch bei Twitter ist die angebliche "Folter" oft das Thema: "Wie schaffst du es, so lebensfroh zu sein unter diesen ganzen Foltern?", fragte ein Nutzer mit dem Namen "Kommissar". Und Protassewitsch antwortete, er sei nicht gefoltert worden. "Es wäre zumindest dumm, mich zu foltern, beobachtet doch die ganze Welt diese Situation."
Aber der Vorwurf kommt nicht von ungefähr – die weißrussische Polizei hat einen schlechten Ruf. Die Erzählungen, aber auch Foto-und Videobeweise über brutale Schläge, Drohungen und Erniedrigungen gegen Protestaktivisten oder auch gegen zufällige Passanten sind so zahlreich, dass sie schwerlich als "Erfindungen" der Opposition abgetan werden können – wie es Staatschef Alexander Lukaschenko bei vielen Gelegenheiten immer wieder tut. Während seines achtstündigen "Großen Gesprächs" mit Journalisten und Experten am Montag hat dieser die Sicherheitsorgane wieder in Schutz genommen.
Laut Protassewitsch war die übermäßige Polizeibrutalität in den ersten Tagen der Proteste der eigentliche Hauptgrund, warum in den folgenden Wochen Zehntausende von Menschen auf die Straße gegangen waren. "Die Leute gingen unter dem Motto 'Gegen Gewalt' auf die Straße."
In den ersten drei Tagen, also am 9., 10. und 11. August 2020, war dafür die vermutete Wahlfälschung der Grund, aber damals waren die Straßenproteste noch nicht so zahlreich wie in den Folgewochen.
Zu seiner eigenen Rolle während der ersten knapp zwei Monaten nach der umstrittenen Wiederwahl Lukaschenkos sagte er:
"Ich habe an der Taktik des Protests gearbeitet, viele der Ankündigungen persönlich verfasst und die Namen der Märsche, ihre Routen usw. ausgearbeitet."
Am Ende wäre es für Protassewitsch doch zu viel Politik und Propaganda geworden, und Ende September hätte er die Redaktion des Telegram-Kanals NEXTA-Live in Warschau mit dem Ziel verlassen, wieder zum Journalismus zurückzukehren. Der Kanal hatte damals den Ruf des am schnellsten wachsenden Telegram-Kanals weltweit. Auch jetzt hat NEXTA-Live noch über eine Million Abonnenten. Die Ereignisse in Weißrussland im letzten Jahr nannte er eine "Revolution der Blogger und Journalisten".
"Betrachtest du dich als Miturheber des versuchten Staatsstreichs, der Revolution – wie auch immer du es nennen willst?", fragt ihn der RT-Journalist.
"Ich denke schon. Ich habe wirklich an das geglaubt, was ich getan habe. Und ich habe es nicht um der späteren Opposition willen getan, auch nicht dafür, was sie jetzt tun", antwortet Protassewitsch.
Er bezweifle, dass die gegenwärtige Sanktionspolitik der Opposition um die Ex-Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja der richtige Weg ist. Dies sei das letzte Druckmittel, das allerdings Weißrussland letztendlich in die Arme Russlands treibe.
"Es ist wichtig zu verstehen, dass alle diese Sanktionen Weißrussland noch weiter in Richtung Russland drängen. Und das ist eine Tatsache. Und sie werden fortgesetzt werden. Jetzt gibt es neue amerikanische Sanktionen."
Dies sei nicht gut, da er für die Neutralität Weißrusslands plädiere: "Ich bin auch nicht unbedingt prowestlich. Ich möchte, dass Weißrussland so etwas wie eine osteuropäische Schweiz wird, eine Pufferzone zwischen Ost und West, die ihre Groschen am Transit verdient." Der Journalist berichtet auch über seine Pläne, ein eigenes Medien-Projekt zu starten – als ausgewogene, politisch neutrale Plattform für alle streitenden Parteien:
"Das ist das, was die Gesellschaft im Moment verlangt. Weil die Gesellschaft die wütende Propaganda mit den Hasstiraden von beiden Seiten satt hat. Ich meine: Egal, ob man Telegram-Kanäle der Opposition oder der Regierung öffnet – es gibt nur eine Flut von Beleidigungen und unverhohlener Propaganda. Ich möchte etwas tun, das erstens den Anforderungen der Gesellschaft und zweitens den Anforderungen der Zeit gerecht wird. Und um etwas auf neutralem Boden zu machen, etwas, das jeder in Ruhe lesen kann. Und darüber hinaus viele Thesen von einer grundlegend neuen Seite präsentieren. Ich hoffe, dass ich sowohl die Beamten als auch den Staat dazu ermutigen werde, offener zu sein und sich zu äußern."
Roman Protassewitsch rechnet offenbar nicht mit einer Haftstrafe, weil er und seine Freundin, die russische Studentin Sofia Sapega, bereits Ende Juli im Rahmen einer außergerichtlichen Einigung aus der Haft entlassen wurden. Sie wohnen unter Polizeiaufsicht an einem unbekannten Ort in der Nähe von Minsk.
Präsident Alexander Lukaschenko hat während des "Großen Gesprächs" auch diese Situation mit Roman Protassewitsch kommentiert. Er betonte, dass Weißrussland dem Blogger nun jeden Schutz gewähren müsse, denn "wenn ihm etwas zustößt, müssen die weißrussischen Behörden dafür geradestehen", da sich Protassewitsch auf weißrussischem Gebiet aufhält.
"Ich bin nicht glücklich darüber, dass er heute in Belarus gelandet ist. Es wäre für mich einfacher gewesen, ihn in Polen oder Litauen zu haben. Warum? Weil sie ihn 'bestellt' haben", sagte er. Offenbar wollte Alexander Lukaschenko damit auf eine mögliche Provokation unter falscher Flagge hindeuten.
Letzte Woche wurde ein weißrussischer Exil-Aktivist mit engen Kontakten in die Neonazi-Szene in Kiew tot aufgefunden. Sowohl die weißrussische Opposition als auch viele westliche Politiker warfen Lukaschenko sofort einen Auftragsmord vor. Er entgegnete, dass dafür keine Beweise vorgelegt wurden. Es wäre im Übrigen wahnsinnig, so etwas geplant zu haben. Die Ukraine müsse selbst auf die Frage antworten, wer und wie einen weißrussischen Bürger erhängt habe, so Lukaschenko.
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