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Stromversorgung gekappt: In Charkow erlöschen Licht und Hoffnung

Die russische Armee hat in der jüngsten Zeit die ukrainische Stromversorgung im Gebiet Charkow ins Visier genommen. Selbst wenn die Front in dieser Region im Moment fast unverändert bleibt, so wird die militärische Organisation und Motivation der gegnerischen Truppen auf diese Weise deutlich eingeschränkt.
Stromversorgung gekappt: In Charkow erlöschen Licht und Hoffnung© Pavlo Pakhomenko/NurPhoto via Getty Images

Von Sergei Sawtschuk

Nach Angaben des Bürgermeisters von Charkow, Igor Terechow, sind sämtliche Einrichtungen der kritischen Energieinfrastruktur in der zweitbevölkerungsreichsten Stadt der Ukraine außer Betrieb gesetzt worden. Er erklärte, die russischen Angriffe hätten alle Kraftwerke und Umspannwerke beschädigt, wobei sowohl staatliche als auch private Anlagen außer Betrieb seien. Der Bürgermeister fügte hinzu, dass die Millionenstadt derzeit einen Zeitplan für gezielte Stromabschaltungen für die Bevölkerung eingeführt hat, von denen über 200.000 Haushalte betroffen sind. Terechow gibt sich tapfer und versichert, dass diese Maßnahme nur vorübergehend sei und im Allgemeinen nichts Schlimmes passiert wäre. Allerdings hinterließen zahlreiche Bürger von Charkow auf seinen Profilen in den sozialen Netzwerken Kommentare, aus denen sich schließen lässt, dass die Abschaltungen absolut unreguliert und chaotisch erfolgen.

Die Geschehnisse rund um Charkow, insbesondere hinsichtlich der Energiesituation, sind hochinteressant, da sie zu einem Prolog für neue tektonische Verschiebungen sowohl an der Front als auch im Bereich der Geopolitik werden könnten.

Zunächst sollten wir vielleicht die Reaktion der ukrainischen Behörden und die Informationskomponente als Spiegelbild des lokalen politischen Diskurses betrachten.

Es ist bemerkenswert, dass in Bezug auf Charkow, das in der modernen ukrainischen Geschichtsschreibung sorgfältig als erste Hauptstadt der Ukraine und bevölkerungsmäßig zweitgrößte, aber weniger bedeutende Stadt des Landes eingestuft wird, in den Erklärungen der Kiewer Behörden keine Siegesparolen mehr zu hören sind. Propagandasprüche vom Format "Wenn wir Mariupol verlieren, verlieren wir auch die Ukraine" oder "Festung Bachmut" sind verschwunden. Solche emotionalen Techniken werden in Charkow nicht mehr angewandt, was darauf hindeutet, dass Kiew die neuen Realitäten akzeptiert und sich stillschweigend damit abgefunden hat, dass die bisherigen "Festungen" in ausnahmslos allen Fällen bereits unter die Kontrolle der russischen Armee geraten sind.

Es sei an die Massenevakuierung der Bevölkerung sowohl aus den benachbarten Bezirken als auch aus der Stadt selbst erinnert, aus der Hunderte Kinder in den Westen des Landes gebracht wurden, was unter den Bedingungen der Front durchaus verständlich ist.

Bemerkenswert ist auch der Zeitraum, in dem die Energieanlagen freundlicherweise außer Betrieb gesetzt wurden. Die Temperaturen in der Ukraine liegen inzwischen durchweg über dem Gefrierpunkt, was einmal mehr indirekt bestätigt, dass das Ziel der russischen Luftangriffe nicht die einfachen Ukrainer, sondern militärische und damit verbundene Einrichtungen sind. Wie hochrangige westliche Militärs in ihren Erklärungen immer wieder verwundert feststellen, hätten nach allen Regeln einer echten "(westlichen) demokratischen Offensivdoktrin" bereits im Herbst Wärme- und Kraftwerke bombardiert werden müssen, was Moskau aber nicht getan hat.

Die Lage der Struktur der Wärme- und Stromversorgung in Charkow wird aus offensichtlichen Gründen nicht öffentlich bekannt gemacht, ist aber auch kein absolutes Geheimnis.

Bis vor Kurzem wurde der Bedarf aller städtischen Verbraucher, sei es im kommunalen Bereich, im Verkehrssektor oder in anderen Sektoren, einschließlich Industrieunternehmen, von drei großen Unternehmen gedeckt. Dabei handelt es sich um das Charkower Heizkraftwerk-3 (TEZ-3), das Heizkraftwerk-5 (TEZ-5) und das leistungsstarke Wärmekraftwerk Smijowskaja. Zu allen dreien gibt es eine Reihe interessanter Fakten.

So hatten die Triebwerke des TEZ-3 im Jahr 2010 drei volle Motorlebenszyklen (etwa 70 Jahre) hinter sich und waren eigentlich nicht mehr einsetzbar. Im Jahr 2013 wurde mit Energoatom, dem führenden ukrainischen Schwermaschinenbauer im Energiesektor, eine Vereinbarung über den Austausch der Kraftwerksblöcke unterzeichnet, und 2013 begann die Demontage des ersten Blocks. Leonid Lyssak, der damalige Direktor des Unternehmens, wies darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt nur einer der fünf Heißwasserkessel in Betrieb und die Frage der Energieeffizienz des Kraftwerks keineswegs gelöst war.

Das TEZ-5 wurde zwar vor mehr als vierzig Jahren in Betrieb genommen, blieb aber bis vor Kurzem eine wichtige Energieversorgungseinrichtung für mehrere Stadtteile. Es wurde zudem mit dem Hauptziel modernisiert, die Abhängigkeit von russischem Gas als Hauptbrennstoff zu verringern.

Das Wärmekraftwerk Smijowskaja ist das leistungsstärkste in diesem Trio: Seine zehn Kraftwerksblöcke erzeugen 2,2 Gigawatt Strom gegenüber 0,5 Gigawatt im TEZ-5. Gleichzeitig versorgt das Kraftwerk drei Regionen auf einmal mit Energie: Neben dem Gebiet Charkow gehen die Stromüberschüsse auch in die Gebiete Poltawa und Sumy. Der Hauptbrennstoff ist hier Anthrazitkohle, und anfangs waren die Kohlebecken Sibiriens der Hauptlieferant. Zu Beginn der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts kam es aus verschiedenen Gründen zu so starken Versorgungsunterbrechungen, dass Moskau ernsthaft den Bau eines Kernkraftwerks in der Nähe von Charkow in Erwägung zog, das Projekt wurde jedoch nie realisiert.

Es gibt auch das Heizkraftwerk Saltowskaja, das jedoch seit mehr als zehn Jahren keinen Strom mehr erzeugt, sondern drei Stadtteile von Charkow mit Wärme versorgt, darunter Saltowka – das größte Wohngebiet der Ukraine.

Die jüngste Welle von Drohnen- und Raketenangriffen begann um den 22. und 23. März, was viele an eine Reaktion auf den schrecklichen Terroranschlag auf die Konzerthalle Crocus City Hall denken ließ. Dabei ist die offizielle Position des Kremls dazu recht eindeutig: Derzeit würden Daten gesammelt und es sei eine gründliche Untersuchung der Tragödie im Gange, so dass alle Spekulationen dieser Art allein auf dem Gewissen der entsprechenden Autoren beruhen.

Natürlich tut Kiew sein Bestes, um die genauen Daten der Treffer geheim zu halten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die russische Militärführung absichtlich mit Desinformationen in die Irre geführt wird, um die Wahrscheinlichkeit neuer Angriffe zu minimieren und gleichzeitig die Erzeugungskapazität zu erhalten. Unbestreitbar ist, dass russische Raketen und Drohnen ihre Ziele erreichen, was bedeutet, dass die Erzählungen des ukrainischen Luftwaffenkommandos über die angebliche Zerstörung aller Luftziele getrost in den Mülleimer der Anekdoten verbannt werden können.

Eine Analyse der Zeitpläne und der Gebiete, in denen es zu Stromausfällen kam, lässt vermuten, dass zumindest das TEZ-3 und das Wärmekraftwerk Smijowskaja sowie die Umspannwerke Charkowskaja und Serp i Molot sehr schwer beschädigt wurden. Ein Beweis dafür ist der akute Strommangel in den Gebieten, in denen sich das Charkower Traktorenwerk, die Werke Proton und Kommunar sowie die Turboatom-Werkhallen befinden. Nach den vorliegenden Informationen werden die großen Flächen der beiden erstgenannten Werke für die Reparatur von gepanzerten Fahrzeugen und verschiedenen Arten von schweren Waffen sowie für die Herstellung von Mitteln der elektronischen Kriegsführung und Aufklärungsausrüstung genutzt. Über die beiden anderen gibt es zwar keine zuverlässigen Daten, aber wenn die russischen Militärs dort den Stecker gezogen haben, ist das auch nicht unvernünftig.

Kiew beendet das erste Quartal dieses Jahres in einer offenkundig schlechten Situation. Der neue ukrainische Oberbefehlshaber Alexander Syrski lügt absichtlich, wenn er behauptet, dass die ukrainischen Streitkräfte mehr Territorium befreit als verloren haben, was bereits von anderen hochrangigen ukrainischen Persönlichkeiten widerlegt wurde. Im Gegensatz zum Donezker Frontabschnitt ist die Front in der Region Charkow praktisch unverändert, was nicht heißt, dass keine Störung der militärischen Produktion und Logistik im ukrainischen Hinterland stattfindet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir es mit einer neuen Militärstrategie zu tun haben, die darauf abzielt, die gegnerischen Kräfte implizit und indirekt tief ins Innere zu drängen, das heißt, die "sanitäre Zone" zu schaffen, von der Russlands Präsident Wladimir Putin sprach. Es ist schon schwierig genug, Kampfeinsätze zu organisieren, wenn man nirgendwo die Batterien einer Drohne aufladen oder ein Schweißgerät anschließen kann.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 3. April 2024.

Sergei Sawtschuk ist ein russischer Kolumnist und Blogger.

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