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Fünf Ereignisse, die 2022 die russische Großstrategie komplett verändert haben

Diese Analyse listet die fünf Ereignisse auf, die im vergangenen Jahr die russische Großstrategie vollständig verändert haben, beginnend mit der Sonderoperation in der Ukraine und endend mit China, das jetzt aktiv die Parameter einer neuen Entspannung mit dem Westen auslotet.
Fünf Ereignisse, die 2022 die russische Großstrategie komplett verändert habenQuelle: AFP © Alexander NEMENOV

Eine Analyse von Andrew Korybko

Die russische Großstrategie war bisher von Moskaus Wunsch geprägt, eine Reihe gegenseitiger Kompromisse mit dem USA-geführten kollektiven Westen zu erreichen, die darauf abzielten, die wachsenden Spannungen pragmatisch zu deeskalieren. Damit sollte Russland zur Brücke zwischen der östlichen und der westlichen Hälfte des eurasischen Superkontinents werden, um seine eigene wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln. Aber Ende 2021 begann Moskau, dieses strategische Kalkül zu überdenken.

Die politischen Entscheidungsträger im Kreml begannen allmählich zu erkennen, dass der Westen kein ernsthaftes Verlangen danach hatte, Kiew zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu bewegen, was jedoch als erster Punkt in einer ganzen Reihe von Kompromissen vorgesehen war. Der Kreml teilte anschließend seine Forderungen nach Sicherheitsgarantien in Bezug auf die NATO-Osterweiterung und die Stationierung strategischer Waffen in Washington und Brüssel mit, um abschließend zu beurteilen, ob es noch Grund zu der Hoffnung gibt, jemals die "Neue Entspannung" zu erreichen, in die Präsident Putin die vergangenen zwei Jahrzehnte investiert hat.

Bedauerlicherweise dämmerte es den russischen Politikern, dass ihre große Strategie in eine Sackgasse geraten war, falls sie überhaupt jemals realistisch war. Sie waren dann gezwungen, entweder den derzeitigen Kurs beizubehalten, der unweigerlich einer strategischen Unterwerfung unter die USA gleichgekommen wäre, die Washington, seinen objektiven nationalen Interessen nachgehend, scheibchenweise verfolgte, oder aber den Lauf der Ereignisse grundlegend zu ändern, wenn dieses Szenario auch das beispiellose Risiko einer Destabilisierung in globale Angelegenheiten in sich birgt.

Mit dem Rücken zur Wand, aber weiterhin seiner patriotischen Vision verpflichtet, Russlands Souveränität um jeden Preis zu bewahren, kam Präsident Putin zu dem Schluss, dass keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als eine militärische Sonderoperation in der Ukraine zu lancieren. Das setzte in der Folge einen Paradigmenwechsel im gesamten Spektrum der internationalen Beziehungen in Gang, mit dem die bestehende Weltordnung auf Kosten der Tatsache revolutioniert wird, dass die Ereignisse unvorhersehbarer denn je geworden sind, jedoch nun der gegenwärtigen Lage der Dinge entsprechen.

Diese Analyse wird die fünf Ereignisse aufzeigen, die im vergangenen Jahr die russische Großstrategie vollständig verändert haben, beginnend mit der Sonderoperation in der Ukraine und endend mit China, das jetzt aktiv die Parameter einer neuen Entspannung mit dem Westen auslotet. Es ist zugegebenermaßen alles andere als eine umfassende Liste, soll aber die wichtigsten Variablen aufzeigen, die zur Neuausrichtung des Ansatzes der russischen Großmacht für den Wandel der globalen Ordnung geführt haben.

1. Die militärische Spezialoperation war ein Wendepunkt in den russisch-amerikanischen Beziehungen

Präsident Putins schicksalhafte Entscheidung, die militärische Sonderoperation anzuordnen, stellte ein Scheitern seiner großen Strategie dar, die er in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu verfolgen versuchte. Die russisch-amerikanischen Beziehungen verschlechterten sich binnen kürzester Zeit dramatisch bis zu dem Punkt, an dem der gefährlichste Stellvertreterkrieg seit dem Zweiten Weltkrieg entfesselt wurde. Präsident Putin hat kürzlich erläutert, dass er buchstäblich keine andere Wahl mehr hatte, als die objektiven nationalen Interessen Russlands zu verteidigen, während Medwedew zugleich bestätigte, dass die russisch-amerikanischen Beziehungen nie mehr dieselben sein werden.

2. Der Westen hat sich von Russland abgekoppelt, es aber nicht geschafft, das Land global zu isolieren

Die Schlussfolgerung des ehemaligen russischen Staatschefs basierte größtenteils auf den erfolgreichen Bemühungen der USA im vergangenen Jahr, den Westen von Russland abzukoppeln. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch Medwedew klarstellte, dass es dem kollektiven Westen nicht gelungen ist, Russland auf globaler Ebene zu isolieren. Nur Amerikas Vasallen schlossen sich dem antirussischen Sanktionsregime an, während der Globale Süden es entschieden ablehnte. Das zeigte wiederum auf, wie sehr in den vergangenen Jahren der Einfluss dieses auseinander fallenden unipolaren Hegemon auf die Welt geschwunden ist.

3. Indien und Iran haben sich zu Russlands strategisch bedeutendsten Partnern entwickelt

Indien intervenierte entschieden als alternatives Ventil gegen den westlichen Druck auf Russland, um das Szenario einer unverhältnismäßigen Abhängigkeit seines strategischen Partners von China präventiv abzuwenden, wozu Neu-Delhi den zuvor maroden Nord-Süd-Transportkorridor (NSTC) über Iran wiederbelebte. Russland, Indien und Iran begannen dann, gemeinsam ein drittes Einflusszentrum zu bilden, um die bipolare Sackgasse in den internationalen Beziehungen zu durchbrechen, die durch den übergroßen Einfluss des chinesisch-amerikanischen Duopols gekennzeichnet ist.

4. Der Wandel der globalen Ordnung bewegt sich jetzt unumkehrbar in Richtung Tripolarität

Die latente Tripolarität, die entfesselt wurde, macht mit der Zeit den endgültigen Übergang zu einer Form der komplexen Multipolarität des globalen Systems unvermeidlich. Das wird anderen großen Ländern wie der Türkei unzählige Möglichkeiten eröffnen, diesen Prozess weiter zu beschleunigen. Dies brachte Chinas Entwicklung als Supermacht jedoch unerwartet zum Stillstand, was wiederum die chinesische Staatsführung dazu zwang, die Parameter ihrer eigenen "Neuen Entspannung" mit den USA ernsthaft zu prüfen.

5. Die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen China und den USA könnte den Wandel der globalen Ordnung verzögern

Die Hektik in der chinesisch-amerikanischen Diplomatie seit dem Gipfeltreffen zwischen Xi Jinping und Joe Biden Mitte November bestätigt die Beobachtung, dass beide Supermächte eine Reihe gegenseitiger Kompromisse diskutieren, die darauf abzielen, das Ende des bipolaren Systems zu verzögern, an dessen Erhalt beide ein eigennütziges Interesse haben. Das endgültige Ergebnis ihrer Gespräche und deren letztendliche Auswirkungen auf den Wandel der globalen Ordnung stellen daher die zwei einflussreichsten Variablen dar, mit denen die internationalen Beziehungen im kommenden Jahr gestaltet werden.

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Beim Rückblick auf die große strategische Erkenntnis, die ich oben angeführt habe, können die Leser die Reihenfolge und die ihr innewohnende Logik erkennen, in der sich alles das im vergangenen Jahr entwickelt hat. Die Entscheidung von Präsident Putin, seine gescheiterte Politik der "Neuen Entspannung" mit dem Westen aufzugeben, obwohl er in den letzten zwei Jahrzehnten sein Möglichstes getan hat, um greifbare Fortschritte zu erzielen, löste eine Kettenreaktion globaler systemischer Ereignisse aus, aus denen sich Chancen und Hindernisse für alle wichtigen Akteure ergeben.

Es stimmt zwar, dass die USA ihre zuvor schwindende unipolare Hegemonie über Europa und einen Teil des asiatisch-pazifischen Raums erfolgreich erneut behaupten konnten, es gelang ihnen jedoch nicht, diesen Erfolg im Globalen Süden zu wiederholen. Das war besonders bemerkenswert in Bezug auf die beeindruckend unabhängige Politik, die von Indien, Iran, Saudi-Arabien, der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten eingeschlagen wurde, insbesondere nachdem die großen Strategien der beiden Erstgenannten mit denen Russlands konvergierten, um gemeinsam einen tripolaren systemischen Durchbruch zu erzielen.

Chinas Entwicklung als Supermacht wurde unerwartet durch diese bahnbrechende Entwicklung zum Stillstand gebracht, was jedoch auch den damit verbundenen Interessen der USA entgegenwirkt. Daher auch das beidseitige Interesse, gemeinsam eine "Neue Entspannung" zu dem für beide Seiten vorteilhaften Zweck zu sondieren, das Ende des bipolaren Systems so lange wie möglich hinauszuzögern. Das bedeutet nicht, dass die Gespräche zwischen den USA und China zu einem Konsens führen werden, aber die Tatsache, dass sie immer noch miteinander reden, spricht für die überragende Bedeutung, die ein erfolgreiches Ergebnis für ihre strategischen Interessen hätte.

Die gegenwärtige Lage der Dinge auf der Welt ist daher eine Mischung aus Gewissheit und Ungewissheit. Gewiss ist, dass der Wandel der globalen Ordnung endlich in eine neue Phase eingetreten ist; ungewiss ist jedoch, wann diese Tripolarität vollständig eintreten wird. Darüber hinaus birgt der Trend aufstrebender Mächte, inmitten dieser schnelllebigen Prozesse selbstbewusster ihre eigene Souveränität zu behaupten, ein erhöhtes Risiko, dass diese in Fällen, in denen ihre Interessen nicht übereinstimmen, aneinandergeraten.

All diese Faktoren zwangen Russland, seine Großstrategie radikal zu ändern, die jetzt von drei Imperativen angetrieben wird: 1.) Beschleunigung der Tripolarität zusammen mit Indien und Iran; 2.) inoffiziell die globale revolutionäre Bewegung gegen den kollektiven Westen anführen und 3.) Bereitstellung von Maßnahmen zur "Demokratischen Sicherheit" für den Globalen Süden zur Verteidigung der dortigen Partner vor Bedrohungen durch hybride Kriege. Das ist weit entfernt vom Versuch, Kompromisse mit dem Westen einzugehen und zeigt, wie sehr sich Russlands globale Rolle im Jahr 2022 verändert hat.

Übersetzt aus dem Englischen.

Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.

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