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Der Westen verwandelt die Niederlage der Ukraine in seine eigene

Unfähig, falsche Prämissen zu überdenken und Abstand von der eigenen Propaganda zu nehmen, sind die USA samt NATO-Vasallen dabei, genau das zu befördern, was sie mit ihrem Krieg in der Ukraine abzuwenden hofften: den Verlust ihrer weltweiten Hegemonie und den eigenen Untergang, wie Pjotr Akopow in seinem Essay analysiert.
Der Westen verwandelt die Niederlage der Ukraine in seine eigeneQuelle: Sputnik © Stanislaw Krasilnikow/RIA Nowosti

Von Pjotr Akopow

Es wird immer deutlicher, dass der Hauptfehler des Westens nicht einmal der Versuch war, Russland in der Ukraine zu besiegen (d. h. darauf zu setzen, Kiew in seinem eigenen Orbit zu halten), sondern Russlands Sieg mit seiner Niederlage gleichzusetzen. Seit zwei Jahren hören wir aus den westlichen Ländern immer wieder dieselbe These: Russlands Sieg wird die Niederlage des Westens sein. Neulich wurde sie vom ehemaligen französischen Premierminister Manuel Valls klar formuliert (als Kommentar zu Emmanuel Macrons Erklärung über die mögliche Entsendung europäischer Truppen in die Ukraine): "Unsere Schicksale – das französische und das europäische – sind eng mit dem Schicksal der Ukraine verknüpft. Wir können nicht einmal den hypothetischen Sieg von Wladimir Putin akzeptieren, der das Ende der ukrainischen Demokratie und die strategische, militärische, politische und moralische Niederlage Europas und des Westens bedeuten würde."

Mit anderen Worten: Alles ist so eindeutig wie möglich – ein russischer Sieg in der Ukraine wäre eine Niederlage für den Westen und daher für Letzteren kategorisch inakzeptabel. Warum wird das gesagt? Natürlich gibt es ein Element der internen Propaganda – man muss die eigenen Völker davon überzeugen, dass die Unterstützung für die Ukraine langwierig und kostspielig sein wird, aber durch die Absicht gerechtfertigt ist, die schlimmsten Folgen einer Niederlage für den Westen zu verhindern. Die Europäer und die Nordamerikaner glauben das bisher – zwar nicht in überwältigender Mehrheit, aber sie glauben es. Gleichzeitig will sich der Westen nicht direkt an einem Konflikt mit Russland beteiligen – also nicht nur seine Waffen, sondern auch seine Truppen schicken. Nicht die Eliten und schon gar nicht die Völker.

Die Situation an der Front führt jedoch dazu, dass sich der Westen an einer Weggabelung befindet – er muss sich entweder auf eine direkte Beteiligung am Krieg mit Russland oder auf die Niederlage der Ukraine einstellen. Und das ist eine Sackgasse – der Westen will und kann kategorisch keine militärischen Kontingente in die Ukraine entsenden (egal, was einige seiner Vertreter sagen), aber er kann auch die Niederlage der Ukraine nicht akzeptieren, denn er ist bereits mit seiner eigenen Niederlage konfrontiert. Wer von den westlichen Staats- und Regierungschefs ist bereit, seinen Nationen direkt zu sagen: "Wir haben verloren, Russland hat gewonnen, und das muss anerkannt werden"? Keiner von ihnen ist es, obwohl der Westen nur sich selbst die Schuld daran geben muss.

Denn eine solche Aussage zur Frage ist von Natur aus spekulativ und falsch. Der Westen hat völlig willkürlich seine Zukunft mit dem Schicksal der Ukraine verknüpft. Die Tatsache, dass der Westen unter Ausnutzung unserer Schwäche und der Verrenkung unserer Geschichte 1991 die Ukraine von Russland losreißen wollte, um die Grenzen der europäischen und der russischen Welt nach Osten zu verschieben, ändert daran nichts. Das Schicksal des Westens hängt nicht von der Zukunft der Ukraine ab, sondern von seiner eigenen Vorstellung von seinem Platz auf der Welt. Wenn er immer noch glaubt, dass er die Kraft für die Weltherrschaft im Allgemeinen (und den Sieg über Russland im Besonderen) hat, ist dies sein Hauptproblem – und die Ursache für seine künftigen Niederlagen.

Der Westen kann die Welt nicht mehr beherrschen – und sowohl die Europäer als auch die Nordamerikaner werden sich damit abfinden müssen. Ja, der Prozess des endgültigen Niedergangs der westlichen (transatlantischen) Weltordnung wird Jahrzehnte dauern, aber er ist unumkehrbar. Der Konflikt mit Russland um die Ukraine ist nur ein Teil dieses Prozesses – und sein Beitrag zur Dekonstruktion der transatlantischen Weltordnung ist unbestreitbar, aber nicht absolut. Und wenn der Westen den Einsatz erhöhen will (d. h. das Scheitern seiner Versuche, die Ukraine zu stehlen, zu seiner strategischen Niederlage zu erklären), dann ist das sein eigener und sehr großer Fehler.

Denn die Wiederherstellung der Einheit Russlands und der Ukraine ist keine katastrophale Niederlage für den Westen, sondern die Wiederherstellung des natürlichen Verlaufs unserer Geschichte – hier geht es um Russen, nicht um Europäer und Nordamerikaner. Ja, der Westen hat wieder einmal versucht, mit unseren inneren Unruhen zu spielen – und wieder einmal wird er am Ende keinen Erfolg haben. Er hat versucht, Russland in eine Katastrophe zu stürzen, doch es wird ihm nicht gelingen – aber ist das ein Grund, dies zu seiner eigenen, westlichen Niederlage und fast zu einer Bedrohung für seine eigene Zukunft zu erklären? Natürlich nicht – wenn man sich von der Realität und dem Sinn für Geschichte leiten lässt und nicht von unangemessenen Vorstellungen von der eigenen Allmacht.

Die künftige Niederlage der Ukraine mit seiner eigenen gleichzusetzen, ist für den Westen auch deshalb gefährlich, weil es ihn daran hindert, rechtzeitig innezuhalten und zu versuchen, zumindest etwas von der Ukraine in seinem Einflussbereich zu behalten. Das heißt, der Westen wäre gut beraten, Kiew zu zwingen, mit Moskau zu verhandeln und auf jede erdenkliche Weise Zugeständnisse zu machen, anstatt darauf zu hoffen, dass künftige Siege der ukrainischen Streitkräfte wenn nicht zu den Grenzen von 2014, so doch zumindest zu einer besseren Verhandlungsposition für die Ukraine führen werden. Falls der Westen zu Beginn der SMO (der Speziellen Militäroperation Russlands in der Ukraine – Anm. d. Red.) begonnen hätte, mit Russland zu "handeln", hätte er zumindest versuchen können, einen Teil der Ukraine in seiner Einflusszone zu halten (was absolut nicht in unserem Interesse und unseren Plänen liegt, doch wir sprechen hier über die Position des Westens), aber stattdessen zog er es vor, auf die Erschöpfung Russlands zu setzen und zu hoffen, dass wir von innen heraus zusammenbrechen und uns zurückziehen.

Und nun befindet sich der Westen in einer Situation, in der er, während er weiterhin behauptet, "Russlands Sieg wird unsere Niederlage sein", eine Wahl treffen muss, die er nicht treffen will, aber muss: Truppen schicken oder die Ukraine aufgeben. Die Entsendung von Truppen ist wegen des Risikos einer raschen Eskalation bis hin zum Atomkrieg unmöglich, und es ist nicht wünschenswert, Kiew ausbluten zu lassen, da sie selbst dies fast mit der Kapitulation von Berlin und Paris gleichgesetzt haben. Das Einzige, was bleibt, ist, Zeit zu schinden, aber auch das funktioniert für den Westen nicht.

Diese Erkenntnis ist auch bei den vernünftigsten westlichen Analysten angekommen, die zunehmend die Alarmglocken läuten lassen. Hier zum Beispiel ein Artikel, der neulich in der US-Zeitschrift Responsible Statecraft veröffentlicht wurde: "Europeans' last ditch clutch at Ukrainian victory" von Anatol Lieven und George Beebe. Sie sind keine Russophilen, obwohl einer von ihnen ein Nachkomme unseres berühmten Adelsgeschlechts der Lieven ist und der andere, von der CIA, ein Russland-Berater von US-Vizepräsident Dick Cheney war. Die Autoren bewerten die Geschehnisse einfach objektiv: "Die militärische Situation in der Ukraine drängt die Vereinigten Staaten und die NATO in den schicksalhaften Moment der Entscheidungsfindung. Und dies geschieht schneller, als die meisten Analysten noch vor einem Monat vorausgesagt haben. Die Niederlage der Ukraine bei Awdejewka ist ein Indikator dafür, wie deutlich sich das Kräfteverhältnis zugunsten Russlands verschoben hat. Der Zusammenbruch der WSU (der Streitkräfte der Ukraine – Anm. d. Red.), die den russischen Streitkräften zahlenmäßig unterlegen und waffentechnisch von der russischen Armee dezimiert und überwältigt sind, ist nun eine sehr reale Möglichkeit geworden."

Lieven und Beebe erörtern die Möglichkeit, westliche Truppen in die Ukraine zu entsenden, und zwar nicht, um die russische Armee zu bekämpfen, sondern um die Kontrolle über einen Teil des ukrainischen Territoriums zu behalten: "Wenn die Russen einen Durchbruch schaffen, ist es denkbar, dass NATO-Truppen entsandt werden, um das zu bewahren, was von der Ukraine übrig geblieben ist, und Kiew und eine Linie zu halten, die weit genug im Osten gegen die russische Offensivfront liegt, um einen Waffenstillstand und Friedensgespräche ohne Vorbedingungen anzubieten.

Dies würde jedoch den Verlust von bedeutendem ukrainischem Territorium bedeuten. Um ein unbeabsichtigtes militärisches Zusammentreffen mit russischen Streitkräften zu verhindern, wären äußerst sorgfältige und transparente Verhandlungen mit Moskau erforderlich. Westliche Generäle würden ihre Truppen nur äußerst ungern ohne Luftunterstützung einsetzen, aber wenn NATO- und russische Luftstreitkräfte über der Ukraine operieren würden, wäre die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes zwischen ihren Luftstreitkräften in der Tat sehr hoch.

Um das Risiko auszuschließen, dass die NATO in einen Krieg mit Russland hineingezogen wird, müssten die westlichen Regierungen die Ukraine nicht nur zwingen, einem Waffenstillstand zuzustimmen, sondern auch den Rückzug der WSU auf NATO-Stellungen anordnen (was viele ukrainische Soldaten wahrscheinlich ohnehin tun würden). Dann müsste es eine breite entmilitarisierte Zone zwischen beiden Seiten geben, die von UN-Truppen patrouilliert wird."

Das heißt, wir stehen vor dem Plan, die Ukraine zu teilen und den westlichen Teil mit NATO-Truppen zu besetzen. Wie realistisch ist dieser Plan? Absolut unrealistisch, denn die Stationierung westlicher Truppen wird von Russland als Vorbereitung der NATO auf einen direkten Kampf gegen uns auf ukrainischem Territorium angesehen werden. Das heißt, auf den Beginn eines militärischen Konflikts mit der NATO – was ganz andere Szenarien mit sich bringen würde.

Die angelsächsischen Analysten sind sich dessen bewusst: "Sollte die begrenzte NATO-Präsenz zu einem ausgewachsenen Krieg mit Russland und dem Eingreifen der US-Streitkräfte führen, dann wird das Risiko einer Eskalation des Konflikts bis hin zum Einsatz von Atomwaffen (zunächst taktisch und in begrenztem Umfang) dramatisch zunehmen und die Welt an den Rand eines nuklearen Armageddon bringen. Ein mögliches Szenario ist, dass Russland nach einer demonstrativen Atomexplosion (zum Beispiel über dem Schwarzen Meer) damit droht, nicht amerikanische oder europäische Städte, sondern US-Militärstützpunkte in Westeuropa anzugreifen. Wie lange werden die Nerven der europäischen Öffentlichkeit und der Regierungen noch durchhalten, bevor sie Frieden fordern?"

Die Frage ist rhetorisch – und so haben Lieven und Beebe ein Rezept, um dieses Szenario zu vermeiden. Sie schlagen einen schnelleren Beginn der Verhandlungen mit Russland vor: "Angesichts der möglichen Niederlage der Ukraine und dieser im wahrsten Sinne des Wortes existenziellen Risiken für die Ukraine ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Druck für weitere Hilfen für die Ukraine und Erklärungen wie die von Macron von einem ernsthaften und glaubwürdigen Wunsch nach einem Kompromissfrieden mit Russland begleitet werden, solange wir noch die Möglichkeit haben, die Ukraine zu Verhandlungen zu zwingen. Ein vollständiger ukrainischer Sieg ist heute eindeutig unmöglich. Daher wird jede Einstellung der Feindseligkeiten in einer Form von Kompromiss enden. Und je länger wir warten, desto schlechter werden die Bedingungen dieses Kompromisses für die Ukraine sein und desto größer wird die Gefahr für unsere Länder und die Welt."

Das ist alles sehr offenherzig – solange noch Zeit ist, mit Moskau über die Teilung der Ukraine zu verhandeln und die Kontrolle über einen Teil der Ukraine zu behalten, wird sich die Lage für den Westen weiter verschlechtern. Wird der Westen in der Lage sein, einen solchen Rat anzunehmen? Gott sei Dank (und zu unserem Vorteil) nicht – denn er hat bereits seine eigene Propagandafiktion geglaubt, dass ein russischer Sieg seine Niederlage sein wird, und hat kein Gespür für die Dynamik des Geschehens. Anstatt das Offensichtliche anzuerkennen und zu versuchen, das zu halten, was ihnen entgleitet, werden die transatlantischen Eliten daher sehen müssen, wie sich das Geschrei über die erfundene Bedrohung durch einen fremden Sieg in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung über ihre eigene Niederlage verwandelt.

Übersetzt aus dem Russischen. Die Erstveröffentlichung erfolgte am 2. März 2024 auf RIA Nowosti.

Pjotr Akopow ist Kolumnist und Analytiker bei RIA Nowosti.

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