Russland

Warum Russland auf Abnutzungskampf setzen könnte, statt auf Großoffensive

Angesichts der ukrainischen Rückschläge könnte Russland bald mit einer eigenen Großoffensive beginnen, meinen Experten. Dafür sprechen etwa die heutige Initiative der Russen an der Front oder ihre Überlegenheit bei der Anzahl der Waffen und Munition. Allerdings ist diese Dominanz nicht so eindeutig, wie sie zu sein scheint.
Warum Russland auf Abnutzungskampf setzen könnte, statt auf GroßoffensiveQuelle: Sputnik © Stanislaw Krasiljnikow / RIA Nowosti

Von Alex Männer

Nachdem die russischen Streitkräfte 2023 eine mehrmonatige Großoffensive der Ukraine erfolgreich abgewehrt und dem Gegner schwere Verluste hinzufügen konnten, dominieren sie nun das Kampfgeschehen praktisch entlang der gesamten Frontlinie. Angesichts der regelmäßigen russischen Vorstöße und kleinerer Geländegewinne spekulieren Experten zunehmend darüber, ob Moskau in diesem Jahr eine großangelegte Offensive startet, um den Zusammenbruch der ukrainischen Armee herbeizuführen.

Überdies werden in Russland Stimmen laut, die eine eigene "Großoffensive" fordern. Insbesondere nach den tragischen Ereignissen in Belgorod am Jahresende, als in Folge ukrainischer Artillerieangriffen auf zivile Einrichtungen Dutzende Menschen getötet und mehr als hundert Personen teils schwer verletzt wurden. Deshalb sollen die Truppen in der Region möglichst schnell mit einer Offensive beginnen, um eine Pufferzone zu schaffen und die Stadt damit vor weiteren Angriffen der Ukraine zu schützen, heißt es oft.

Großoffensive birgt enorme Risiken

Allerdings birgt sowohl eine begrenzte Offensive im Raum Charkow als auch eine breit angelegte Militäroperation an anderen Frontabschnitten für Russland in der jetzigen Situation – ungeachtet dessen deutlicher Überlegenheit – enorme Risiken.

Bei Charkow etwa hatte die russische Armee mit ihren Offensivaktionen bereits 2022 große Schwierigkeiten, da dieser Abschnitt stark militarisiert und für die ukrainische Vereidigung von zentraler Bedeutung ist. Ein russischer Vormarsch Richtung Charkow würde offensichtlich viel Kraft in Anspruch nehmen, wobei ein positiver Ausgang dieser Unternehmung stark zu bezweifeln ist.

Generell sind breit angelegte Vorstöße oder Großoffensiven sehr riskant, da sie bei dem Angreifer zu erheblichen Verlusten führen und bei einem Misserfolg die Kampfkraft und Moral des Gegners steigern können. Für Russland besteht zudem die Gefahr, dass seine jetzige Truppenstärke für eine erfolgreiche Offensive nicht ausreichen könnte, sodass man unter Umständen zu einer weiteren Teilmobilisierung gezwungen wäre. Was wiederum die Gefahr einer Destabilisierung innerhalb der russischen Gesellschaft erhöhen würde.

Deutlich weniger verlustreich aus Sicht der Russen wäre es dagegen, sich weiterhin an die bewährte "Taktik der Tausend Stiche" zu halten, die sie bereits seit mehr als einem Jahr gegen die zahlenmäßig überlegenen ukrainischen Streitkräfte erfolgreich anwenden.

In diesem Sinne hatte Moskau den Druck auf den Gegner nach dessen gescheiterter Offensive im Sommer und Herbst 2023 praktisch an allen Frontabschnitten intensiviert, sodass Kiew seine kampffähigsten Einheiten hin und her verlegen muss, um die immer wieder entstehenden Schwachstellen auszugleichen.

Dabei sind die ukrainischen Soldaten den permanenten massiven Schlägen der russischen Luftwaffe und Raketeneinheiten ausgesetzt, die sowohl nahe der Frontlinie operieren als auch Ziele tief im feindlichen Hinterland angreifen, wo die Ukrainer zahlreiche Reserven konzentriert haben. Ein Großteil dieser Reserven wird laut russischen Angaben zerstört, noch bevor er im Kampf eingesetzt werden kann.

Dass diese Taktik Erfolg hat, belegt der akute Mangel an Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Artillerie, Luftabwehrsystemen und vor allem Personal in der ukrainischen Armee. Außerdem befindet sich ihr Kampfgeist unlängst auf einem Tiefpunkt.

Keine überwältigende Dominanz Moskaus

In Anbetracht dessen mahnen manche russische Experten davor, diese Taktik aufzugeben, sowie vor Gefahren einer Offensive. Denn trotz der vermeintlichen Überlegenheit Moskaus, etwa bei der Anzahl der Waffen und Munition, ist die Lage nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheint.

Die Gründe dafür und warum ein baldiger Sieg Russlands über die Ukraine auf dem Schlachtfeld schwierig ist, erläutert das Portal Ukraina.ru unter Verweis auf einen Donezker Stabsoffizier, der sich bislang immer anonym zu militärischen Fragen äußerte. Im Übrigen wurden die drei im Artikel genannten Thesen auch von bekannten russischen Militärexperten bereits öffentlich thematisiert.

Dem Artikel zufolge geht es für Moskau zuerst darum, die "Überlegenheit der ukrainischen Artillerie gegenüber der russischen in Bezug auf die Reichweite" sowie die dadurch bestehende Dominanz der Ukrainer beim Gegenbatteriekampf zu überwinden. Die ukrainischen Truppen haben zwar deutlich weniger Artilleriemunition als Russland zur Verfügung, können aber dank den vom Westen bereitgestellten 155-mm-Geschützen viel weiter feuern.

Zum Beispiel kann die US-amerikanische Haubitze vom Typ "M-777" Ziele in einer Entfernung bis zu 40 Kilometer treffen. Zum Vergleich beträgt die maximale Reichweite der meisten von Russland derzeit eingesetzten Artilleriesysteme wie "Msta" oder "Akazie" nicht mehr als 30 Kilometer. Daher benötigt die russische Armee für das Konterbatteriefeuer definitiv mehr Geschütze mit deutlich größerer Reichweite.

Zweitens hat Russland entgegen vielen Behauptungen keine grenzenlose Überlegenheit in der Luft, so der Artikel. Denn die Luftverteidigung der Ukraine kann sowohl auf Satellitendaten der NATO als auch auf andere Unterstützung dieses westlichen Bündnisses zurückgreifen, weshalb man sie nur schwer "knacken" kann. Die ukrainische Luftabwehr ist daher in der Lage, Flugzeuge unbemerkt aus einem Hinterhalt anzugreifen, sodass die russischen Kampfjets sich meist nur nahe der Frontlinie bewegen.

Drittens benötigt Russland für eine Großoffensive mehr Soldaten. Dies kann ohne eine zweite Teilmobilmachung in der relativ kurzen Zeit jedoch nicht gewährleistet werden. Eine Mobilisierung ist aber offenbar nicht geplant, weil die russische Führung hauptsächlich auf Freiwillige setzt.

Insofern spricht einiges derzeit gegen eine russische Offensive. Zumal die ukrainische Armee noch lange nicht besiegt ist, auch wenn alles auf eine Niederlage der Ukraine hinausläuft. Und wenn die Taktik der Tausend Stiche weiterhin den gewünschten Effekt bringen sollte, dann werden die ukrainischen Reserven bald erschöpft sein und die Front früher oder später zusammenbrechen.

Original-Quelle: https://ukraina.ru/20240111/1052624465.html

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