Europa

Das gemeinsame Haus Europa. Zum Tod von Michail Gorbatschow

Am Dienstag verstarb der letzte sowjetische Staatschef, Michail Gorbatschow, im Alter von 91 Jahren. Seine Idee war ein gemeinsames Haus Europa. Sie ist gescheitert. Und mit dem Scheitern der Idee ist auch eine ganze Generation von Europäern an Europa gescheitert.
Das gemeinsame Haus Europa. Zum Tod von Michail GorbatschowQuelle: www.globallookpress.com

Eine Analyse von Gert Ewen Ungar

Die Worte Perestroika und Glasnost haben sich auch im Westen eingeprägt. Sie beschreiben den Versuch Gorbatschows, die Sowjetunion umzubauen und transparenter zu machen. Im Westen gilt Gorbatschow daher als großer Reformer, in Russland ist er umstritten. Er wird für den Niedergang der Sowjetunion und das damit verbundene Leid der russischen Bevölkerung verantwortlich gemacht. 

Im Westen ist der Blick auf Gorbatschow dagegen verklärend. Es ist daher wenig verwunderlich, dass schon wenige Stunden nach der Meldung seines Todes Instrumentalisierung-Versuche einsetzen. Der Tod des ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion wird zum Anlass genommen, gegen den amtierenden Präsidenten der russischen Föderation auszuteilen. Gorbatschow – der lupenreine Demokrat, Putin – der lupenreine Diktator, der alle Reformen zurückgedreht hat. Das ist natürlich wieder einmal blanker Unsinn. 

Michael Thumann beispielsweise veröffentlichte in Die Zeit ein Stück Relotius-Kitsch. Ganz einfaches Schwarz-Weiß, unterlegt mit Desinformation und dem erwartbaren Resultat, dass Gorbatschow ein Guter war und Putin eben nicht. Nach Thumann hat Putin den INF-Vertrag über die Vernichtung von atomaren Mittelstrecken-Waffen zerstört, zudem drohe Putin mit einem nuklearen Feldzug. Beides ist nachweislich falsch. Putin hat bis zur letzten Minute signalisiert, den INF-Vertrag erhalten zu wollen. Die USA hatten kein Interesse. Putin hat zudem immer wieder deutlich gemacht, dass eine Anwendung von Atomwaffen nur im Falle einer unmittelbaren Bedrohung der Sicherheit Russlands in Frage kommt. Von diesem Punkt ist der Konflikt in der Ukraine allerdings noch einige Eskalationsstufen entfernt. 

Die Welt ist komplexer. Ich kann mich noch gut an den Gorbi-Hype erinnern. Plötzlich gab es Austausch mit einem Land, das für Westdeutsche wie mich bisher nur als bedrohlich grauer Schatten existierte. Das Wochenmagazin Stern hob russische Models aufs Cover, die deutsche Pop-Band Modern Talking durfte als erste westliche Band ihre Alben in der Sowjetunion verkaufen. Es ist ein Relikt aus dieser Zeit, dass Modern Talking auch heute noch in Russland weit mehr geschätzt wird und die russische Pop-Kultur weit mehr inspiriert als in Deutschland. 

Als ich vor einigen Jahren die tschetschenische Hauptstadt Grosny besuchte, lächelten mir aus gleich mehreren Schaufenstern die Mitglieder der Band Thomas Anders und Dieter Bohlen zu. Als überlebensgroße Papp-Figuren bewarben sie Sportmode und Restaurants.  

Wenn man heute in Tschetschenien auf Modern Talking trifft, dann wirkt da auch ein bisschen Gorbatschows Idee vom gemeinsamen Haus Europa nach. Gorbatschow steht für eine Idee, eine politische Vision, die ich immer geteilt habe und die ich immer noch teile, auch wenn an eine Umsetzung für einen langen Zeitraum nicht mehr zu denken ist. Sie lautete: Wir leben als Europäer vereint auf einem Kontinent, pflegen Handel und kulturellen Austausch in Respekt und Anerkennung unserer Unterschiedlichkeit in Bezug auf unsere Traditionen und Wertvorstellungen.

30 Jahre nach dem Fall der Sowjetunion und der Wiedervereinigung ist von dieser Vision nichts mehr übrig. Der Eiserne Vorhang schließt sich wieder. Die unter Gorbatschow vereinbarten und angestoßenen Verträge zur Rüstungskontrolle und Abrüstung wurden von den USA aufgekündigt. Die NATO hat sich bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt, die EU will sich militarisieren, um mit militärischer Stärke im Rücken eigenständige Geopolitik in ihrem Interesse zu betreiben. Die Gegner sind dabei schon ausgemacht. Sie heißen Russland und China.

30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist klar: Europa ist friedenspolitisch gescheitert. Es war nicht in der Lage, den historisch einmaligen Moment zu nutzen und eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur für das gesamte Europa zu errichten, in dem alle Staaten in Frieden miteinander und ohne Furcht voreinander leben können. 

Wer an dieser Stelle meint, den Schuldigen klar identifizieren zu können, der irrt. Nein, es ist nicht Putin, der diesen Gedanken zerstört hat. Es sind zunächst die westlichen Bündnisse, es ist die NATO, es ist die EU, und es ist letztlich auch Deutschland, die einen Dominanzanspruch haben. 

Es ist eben nicht Russland, dass sich seit drei Jahrzehnten in Richtung Westen ausdehnt. Es ist die NATO und es ist die EU, die ihren Einflussbereich ständig und massiv in Richtung Osten erweitern. Man mag anführen, es habe nie das Versprechen gegeben, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehnt. Inzwischen ist belegt, dass es dieses Versprechen gegeben hat. Doch selbst wenn es das Versprechen nicht gegeben hätte, würde sich die Frage stellen, ob die Ausdehnung notwendig und vor allem, ob sie strategisch klug war. Die Entwicklung zeigt, sie war es nicht. 

Die NATO mag sich ja selbst tatsächlich für ein friedliebendes Verteidigungsbündnis halten. In Bezug auf Russland und russische Sicherheitsinteressen ist allerdings ausschließlich wichtig, wie Russland die NATO wahrnimmt und einschätzt. Russland kommt zu einer grundlegend anderen Einschätzung. Die NATO überging immer russische Einwürfe und überschritt auch die von Russland gezogenen roten Linien, was Russlands These, die NATO sei eine feindselige, aggressive Organisation, nur bestätigte. 

Gorbatschow und die USA wollten die Wiedervereinigung Deutschlands, Großbritannien und Frankreich waren dagegen. Margaret Thatcher meinte im Hinblick auf ein wiedervereinigtes Deutschland: "We beat the Germans twice. Now they are back." Das Misstrauen gegenüber den Deutschen war auch 45 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer groß. Nicht zu Unrecht, wie sich im weiteren Verlauf der Geschichte zeigen sollte. Den Deutschen wurde die Zustimmung zum Euro abgetrotzt. Er sollte das Instrument sein, mit dem zu erwartende deutsche Großmachtphantasien künftig gezügelt werden können. 

Es kam anders. In der Griechenlandkrise machte der damalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble den Euro zur deutschen Knute über die Länder, die ihn als Währung eingeführt hatten. Deutschland war wieder wer, hatte wieder Macht in Europa. Es wird deutsch gesprochen in der EU. Seitdem befindet sich die EU in einer nahezu permanenten ökonomischen Krise, verliert Anteile am Welthandel und damit an Bedeutung. Das ist die Kehrseite deutscher Austeritätspolitik, die zwar den deutschen Einfluss in der EU sichert, aber zu ökonomischer Instabilität führt. Die jetzige Krise wird die EU nicht unbeschadet überstehen. Es droht ihr der Zerfall in einer ähnlichen Weise, wie vor dreißig Jahren die Sowjetunion zerfallen ist.  

Unter dem Aspekt deutschen Machtzuwachses und seiner Auswirkungen auf die EU und auf Europa war die Wiedervereinigung ein Fehler. Deutschland wurde erneut dominant und wie historisch schon zuvor, ist Deutschland Deutschland einfach zu klein. Es strebt nach Europa, einem Großdeutschland, einem Europa nach deutschen Regeln. Die aktuelle Konfrontation auf dem europäischen Kontinent wird auch vom Anspruch eines deutschen Universalismus angetrieben. Man höre sich nur die Äußerungen von der Leyens, Baerbocks und Habecks an. 

Das Schicksal der Länder der ehemaligen Sowjetunion und der Preis, den sie für die deutsche Wiedervereinigung zahlten, geriet in Deutschland schnell in Vergessenheit. Die massive Ungleichheit in Russland, den massiven Anstieg von Armut erklärte man mit Anpassungsprozessen an den freiheitlich-liberalen Kapitalismus. Was in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in Ländern wie Usbekistan, Tadschikistan und all den anderen passierte, fand in deutschen Medien gar keinen Niederschlag. 

Dass Boris Jelzin, der Nachfolger Gorbatschows und erste Präsident der jungen russischen Föderation, sein eigenes Parlament beschießen ließ, tat seinem Ruf als Demokrat und Reformer im Westen keinen Abbruch. Das wurde einfach unter den Teppich gekehrt. Die Lebenserwartung in der russischen Föderation sank, die Säuglingssterblichkeit nahm ebenso zu wie Obdachlosigkeit und Korruption. In den großen Städten regierte die Mafia. Man bekam davon im Westen nur am Rande mit. Es entstand zudem eine neue Kaste in Russland – unermesslich reiche Personen mit starkem politischen Einfluss: die Oligarchen. Ich kenne diese Zeit nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus Erzählungen. Es muss eine schwierige Zeig gewesen sein, voller Widersprüche und voller Ambivalenz, vor allem aber mit viel Armut und Elend. In Deutschland gab es im Gegensatz dazu die Love-Parade und ein Gefühl vom Ende der Geschichte. Was sollte jetzt noch kommen? Russland und sein Schicksal war völlig vergessen. 

Es war Putin, der die Fehlentwicklungen in Russland korrigierte. Unter Putin überwand Russland seine ökonomische Schwäche, begründete neue Allianzen, wurde wieder zu einem wichtigen Player, der mit erstarktem Selbstbewusstsein seine Interessen formulierte. Es gab von Putin über Jahre hinweg zahlreiche Angebote zur Zusammenarbeit. Wie schon von Gorbatschow gab es auch von ihm das Angebot an einem gemeinsamen Haus Europa zu bauen. Er versuchte die Vision Gorbatschows weiter umzusetzen, scheiterte aber an der EU und an den westlichen Partnern, die nach Dominanz streben. 

Auf Augenhöhe kann der Westen, kann die EU und kann auch Deutschland nicht verhandeln. Der Westen strebt nach Stärke und aus der Position der Stärke heraus möchte er seine Regeln diktieren. Das ist das Dilemma Europas. 

Gorbatschow hat diese Eigenschaft des Westens übersehen. Er konnte sie auch nicht sehen, denn die Sowjetunion, der er vorstand, war bereits geschwächt. Heute ist dieses moralische Defizit westlicher Staaten deutlich sichtbar. Sie versuchen Russland und China zu schwächen, um dann aus der Position des Stärkeren heraus ihre Regeln zu diktieren. 

Mit dieser Haltung aber wurde eine große Chance für Europa vertan: Die Chance für ein friedliches Zusammenleben in wechselseitigem Respekt und in wechselseitiger Achtung. 

Gorbatschows Idee vom gemeinsamen Haus Europa ist gescheitert. Europa, vor allem die EU und Deutschland waren dafür nicht reif. Mit dieser Idee ist allerdings nicht er allein gescheitert, sondern im Grunde eine ganze Generation von Europäern. Europa konnte den einzigartigen historischen Moment für sich nicht zum Vorteil nutzen. Es wird eine sehr lange Zeit dauern, bis ein derartiger historischer Moment, gefüllt von Chance und Möglichkeit, erneut aufblitzt. Mit Gorbatschow wird aber auch seine Idee für ein friedliches Europa zu Grabe getragen.

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