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Warum die EU zum größten Verlierer des Ukraine-Konflikts werden könnte

Während im Westen die Alarmglocken läuten, könnten sowohl die Überlegungen von Emmanuel Macron bezüglich der Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine als auch das aktuelle Verhalten Westeuropas und die Eskalation der Bedrohung Russlands mit einem bestimmten Faktor zusammenhängen.
Warum die EU zum größten Verlierer des Ukraine-Konflikts werden könnteQuelle: Gettyimages.ru © Maja Hitij / Getty Images

Von Fjodor Lukjanow

Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte, die Fünfte Republik werde in naher Zukunft keine Truppen in die Ukraine entsenden. Zuvor hatte er erklärt, dass westliche Staatsoberhäupter dieses Thema zwar diskutiert, aber keine Einigung erzielt hätten.

Die Entwicklung in der mit der Ukraine verbundenen Krise führt zu paradoxen Konsequenzen. Zwei Jahre nach Beginn der schlimmsten Phase dieser Krise findet sich Westeuropa als Speerspitze der Konfrontation wieder, nicht nur und nicht zuletzt im Hinblick auf die dabei entstehenden Kosten, über die seit Anbeginn diskutiert wurde. Mittlerweile wird das Thema eines militärischen Konflikts mit Russland in der Alten Welt zunehmend lauter diskutiert – lauter als auf der anderen Seite des Atlantiks – mit Frankreich als Anstifter. Vielen schien die Äußerung über die Möglichkeit, NATO-Truppen in das Kriegsgebiet zu entsenden, als dem Präsidenten spontan entschlüpft. Doch auch eine Woche später bekräftigte Paris, dass dies bewusst und durchdacht geäußert wurde.

Seit vielen Jahren gibt es aus Frankreich Forderungen, in der EU über eine "strategische Autonomie" nachzudenken, aber nur wenige haben mit genau dieser Variante ihrer Umsetzung gerechnet. Wenn andererseits die strategische Autonomie tatsächlich als Ziel angesehen wird, was könnte das heute bedeuten? Eine Trennung vom Hauptverbündeten – den Vereinigten Staaten – im Kontext einer akuten militärisch-politischen Konfrontation, die eine Konsolidierung erfordern würde, ist wohl eher absurd. Sondern die Unabhängigkeit würde wahrscheinlich die Fähigkeit voraussetzen, bei der Festlegung militärpolitischer Aufgaben die Führung – auch über die Neue Welt, die USA – zu übernehmen und nicht umgekehrt.

Erinnern wir uns an jene Invasion vor 13 Jahren, als die Initiative für eine militärische NATO-Intervention im Bürgerkrieg in Libyen von den Westeuropäern ausging – allen voran von den Franzosen. Die Beweggründe in Paris dafür wurden dann auf unterschiedliche Weise interpretiert. Beginnend von den rein persönlichen Gründen des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy (etwa die schon lange kursierenden Gerüchte über seine angeblichen finanziellen Verstrickungen mit Muammar al-Gaddafi) bis hin zum Wunsch, einen leichten Sieg über einen schwachen Feind zu erringen und damit gleichzeitig für die EU das allgemeine Ansehen als auch deren Einfluss in Afrika zu stärken. In London (David Cameron als Premierminister) und in Rom (Silvio Berlusconi als Ministerpräsident) hatte man ähnliche Gründe. Der damalige US-Präsident Barack Obama, der im Gegensatz zu den meisten seiner Vorgänger nicht offen kriegerisch agierte, war von dieser Intervention nicht begeistert. Es entstand so die überraschende Formulierung einer "Führung hinter den Kulissen" – aus Washington, D.C. unterstützte man die Verbündeten in Westeuropa, räumte ihnen aber den Vorrang ein.

Die USA konnten es jedoch nicht lange aussitzen, weil die Situation sich nicht als Blitzsieg der NATO entwickelte, sondern eher der Suez-Krise von 1956 ähnelte. Damals versuchte man sowohl in Paris wie auch in London, auf eigene Gefahr zu handeln, um den Prozess des Autoritätsverlusts vor dem Hintergrund des Zerfalls der eigenen Kolonialreiche aufzuhalten und umzukehren. Doch stattdessen wurde damals das letzte Kapitel der Geschichte dieser Kolonialreiche geschrieben: Was in der Suez-Krise erzielt wurde, war nicht nur zur Zufriedenheit der UdSSR, sondern auch der USA. Beide neuen Supermächte glaubten, dass es für die alten Großmächte an der Zeit sei, sich zurückzuziehen. In Libyen war das Scheitern der europäischen Verbündeten für Washington allerdings ärgerlich, und man sah sich dort zum Eingreifen gezwungen. Das Ergebnis ist bekannt – am Ende bekamen alle, was sie wollten: Das Regime wurde gestürzt und Gaddafi wurde brutal gemeuchelt, aber um den Preis des Zusammenbruchs dieses Landes und der Entstehung einer neuen Quelle chronischer Instabilität.

Es ergibt keinen Sinn, die damalige Situation mit der aktuellen im Ukraine-Konflikt zu vergleichen, da sowohl die Struktur als auch das Ausmaß beider Konflikte unterschiedlich sind. Aber es gibt eine westeuropäische Kriegslust aus Gründen, die nicht ganz klar sind. Und zwar, wie sich jetzt herausgestellt hat, sogar in Deutschland, das sich in der Vergangenheit – mindestens in Bezug auf den Irak und Libyen – noch zurückhaltend zeigte.

Woher kommt diese neue Furchtlosigkeit? Sie scheint aus dem ständigen Mantra herzurühren, die NATO unter keinen Umständen in einen direkten Konflikt mit Russland (wie früher mit der Sowjetunion) hineinzuziehen – weil das in einen Atomkrieg münden würde. Und jetzt fängt man in Paris plötzlich an, von "strategischer Mehrdeutigkeit" zu lamentieren – eine listige Strategie, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu verwirren und ihm Angst einzujagen, wegen möglicher irreversibler Konsequenzen – Furcht vor seinen eigenen nächsten Schritten, nicht vor dem Westen. In anderen westlichen Hauptstädten ist das noch immer nicht der Fall, aber es bildet sich erkennbar eine Gruppe von Ländern, die bereit sind, mit Russland die Klingen zu kreuzen.

Mehrdeutigkeit ist ein Begriff, der auch in Russland nicht unbekannt ist. Die Ziele von Moskau waren von Anfang an eher beschreibend als konkret formuliert, und das sind sie auch heute noch. Wenn die Frage der Veränderbarkeit von Grenzen von höchster Seite öffentlich aufgeworfen wird, interpretieren die Europäer, die sich gerade wegen dieser Veränderbarkeit von Grenzen jahrhundertelang gegenseitig bekämpften, dies in einem rein expansiven Sinne. Und obwohl es in unserem Fall speziell um solche Grenzen geht, die infolge des Zusammenbruchs der UdSSR ein kulturell und historisch einheitliches Territorium plötzlich trennen sollten, ist daher eine weite Interpretierbarkeit durch Außenstehende (im expansiven Sinne) nachvollziehbar.

Die Unklarheit der Europäer impliziert wahrscheinlich eine Erhöhung der substanziellen Militärhilfe für die Ukraine ohne Ankündigungen, aber auch ohne die zunehmenden Anzeichen dafür verheimlichen zu können. Die Risiken dabei sind beträchtlich, denn es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Russland aus irgendeinem Grund von einer adäquaten Antwort Abstand nehmen würde, selbst wenn es auch dafür Gründe gäbe. Die Angst vor Russland ist in Europa nicht neu und auf ihre Art historisch betrachtet sehr aufrichtig; sie sollte nicht abgetan werden. Darüber hinaus glaubten Europäer nach dem Kalten Krieg, sie könnten die früheren Probleme guten Gewissens einfach vergessen. Aber hier sind sie wieder.

Wir wagen jedoch die Vermutung, dass das aktuelle westeuropäische Verhalten und die Eskalation der Bedrohung Russlands auch mit einem weiteren Faktor zusammenhängen: der Erkenntnis, dass sich die EU als größter Verlierer des andauernden Ukraine-Konflikts herausstellen könnte. Meinungsumfragen zufolge wird die Kluft zwischen den Ansprüchen der europäischen Bevölkerung und den Prioritäten der politischen Klasse immer größer. Darüber hinaus ist nicht klar, was man vom Seniorpartner in Washington, D.C. noch erwarten kann. Es stellt sich heraus, dass überall Unklarheiten herrschen und es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als dies zum Kern der eigenen Politik zu machen – und darauf beharren sie.

Im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahl lud Außenminister Sergei Lawrow die Botschafter der EU-Länder zu einem Treffen ein, doch die Eingeladenen lehnten kollektiv ab. Laut dem Außenminister haben die russischen Behörden genügend Informationen darüber gesammelt, wie sich die diplomatischen Vertretungen europäischer Länder auf die kommende Wahl "vorbereiten", indem sie Projekte zur Unterstützung der nicht systemischen Opposition entwickelt haben und sich in die inneren Angelegenheiten Russlands einmischen. Bei dem geplanten Treffen wollte Lawrow in bester Absicht den ausländischen Diplomaten davon abraten, sich an solchen Aktivitäten zu beteiligen, zumal Botschaften kein Recht haben, solchen Aktivitäten nachzugehen.

Lawrow berichtete wörtlich: "Was denken Sie, zwei Tage vor der geplanten Veranstaltung, vor dem Treffen, haben sie uns eine Nachricht geschickt: Wir haben beschlossen, nicht zu kommen ... Können Sie sich Beziehungen zu Staaten auf diplomatischer Ebene vorstellen, deren Botschafter Angst davor haben, zu einem Treffen mit dem Außenminister des Landes zu kommen, in dem sie akkreditiert sind? Wo hat man das jemals gesehen? Genau das [Niveau] haben die [diplomatischen] Manieren dieser vereidigten Partner nun erreicht."

Die offizielle Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, wies darauf hin, dass eine solche Haltung der EU-Diplomaten, die eigentlich den Informationsaustausch zwischen dem Gastland und ihrem Heimatland sicherstellen müssen, Fragen aufwirft. Genauer gesagt eine Frage: "Was machen diese Leute, wie interpretieren sie sich [ihre Rolle] grundsätzlich auf dem Territorium unseres Landes, wenn sie ihre wichtigste Funktion nicht erfüllen?" Laut Sacharowa sind Botschafter der westlichen Länder und der NATO an der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands sowie an Auftritten beteiligt, die auch Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der Russischen Föderation umfassen. Sie "machen ihre eigentliche Arbeit nicht mehr", sagte Sacharowa in der Gesprächssendung "Solowjow Live".

Und im Zusammenhang mit diesem Vorfall schlug der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats der Russischen Föderation, der frühere Präsident Dmitri Medwedew, vor, alle Botschafter des Landes zu verweisen, die sich geweigert hatten, sich mit Lawrow zu treffen. Seiner Meinung nach widerspricht ein solches Verhalten der eigentlichen Idee diplomatischer Missionen. "Diese Botschafter sollten aus Russland ausgewiesen und das Niveau der diplomatischen Beziehungen [zu diesen Ländern] gesenkt werden", schrieb er in einem sozialen Netzwerk.

Ersterscheinung in der Zeitung Rossijskaja Gaseta am 5.3.2024 und übersetzt aus dem Englischen am 9.3.2024

Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift "Russia in Global Affairs", Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor am Internationalen Diskussionsklub Waldai.

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