Meinung

Bundeswehr-Leak: Geheimnisse und Geplausche

Es wirkt wie eine völlig normale Gesprächssituation, wie Fans eines Fußballvereins am Stammtisch, nur dass statt über Spielzüge und Aufstellung über Raketen und deren mögliche Ziele geredet wird. Aber was normal scheint, ist in Wirklichkeit ungewöhnlich.
Bundeswehr-Leak: Geheimnisse und Geplausche© Colin Smith, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons

Je länger man über diese Aufnahme nachdenkt, desto mehr Fragen stellen sich. Eine Bemerkung in einem der Kommentare zu meinem Artikel brachte ein durchaus wichtiges Argument für ein internes Leak – man könne ein Versehen ausschließen, "wenn man die Brisanz der Informationen in Betracht zieht und sich an diesbezügliche Vorgaben der BW selbst für niedere Dienstgrade erinnert (keine Klarnamen, Daten, Orte etc.)."

Auf den ersten Blick wirkt dieses Argument relativ schwach. Zumindest für alle, die nicht viel mit Geheimnissen und Geheimhaltung zu tun hatten. Aber es ist weit stärker, als es scheint. Weil hier nicht von einer Strichliste die Rede ist, sondern von einem antrainierten Verhalten. Und gegen das zu verstoßen, ist nicht so einfach.

Als Beispiel eine kleine Anekdote. Meine politische Sozialisation fand in den 1970ern statt, und damals gab es innerhalb der radikalen Linken einige Verhaltensnormen. Beispielsweise, dass man Kontaktdaten am besten nicht aufschreibt, und sich überhaupt, wenn möglich, auf Vornamen und Telefonnummern beschränkt. Für die Jüngeren dürfte das schwer nachvollziehbar sein, aber damals gab es eben keine einfache Suche im Computer, die zu einer Telefonnummer weitere Daten auswirft. Das bedeutet, ohne größere Anstrengungen gaben diese Informationen selbst für staatliche Behörden nicht viel her, im Fall des Falles.

Wirklich nötig war das damals nicht, aber das waren nun einmal die Regeln. Lange Zeit später fiel mir auf, dass ich immer noch Probleme dabei hatte, mir Nachnamen zu merken. Vornamen waren in Ordnung, und Telefonnummern eine Leichtigkeit, aber ab da wurde es mühsam.

Und dann habe ich mich eines Tages mit meinem Vater unterhalten; zu dem Zeitpunkt war er bereits einige Jahre pensioniert. Ich war mit ihm im Auto unterwegs, und irgendwie kam einer, ich weiß nicht einmal mehr, wer von uns beiden, darauf, wie schwierig es sei, sich Nachnamen zu merken. Auf jeden Fall stellten wir in diesem Augenblick fest, dass wir dieses Problem teilten, wenn auch gewissermaßen aus völlig unterschiedlichen Quellen – ich durch diese Verhaltensvorgaben in den 70ern, und er durch seinen Dienst, weil die Vorgaben beim BND ähnlich waren. Was kein Wunder ist, dienen sie doch letztlich dem gleichen Zweck.

Wir haben herzlich gelacht, weil es außerhalb dieser Zusammenhänge einfach nur hinderlich und albern ist, aber in diesem Moment wurde mir klar, wie tief diese Art Drill gehen kann, selbst wenn sie viele Jahre zurückliegt.

Das ist etwas völlig anderes, als eine Liste von Dingen, die man darf und die man nicht darf. Ich kenne die entsprechenden Vorgaben der Bundeswehr nicht, aber auch dort dürfte das über Jahre hinweg eingeübt worden sein. Insbesondere das "keine Klarnamen, Daten, Orte". Das hat Konsequenzen, die sich nicht einmal völlig auf die Umgebung begrenzen lassen, in der sie erwünscht sind. Sprich, für die Verwendung jedes wirklichen Namens, jedes echten Ortes muss eine innere Hürde überwunden, ein mentaler Aufwand geleistet werden, der ungefähr dem Moment entspricht, in dem man während einer Diät nach einer Tafel Schokolade greift.

Was diesen lockeren Plausch, in dem nicht nur über potenzielle Ziele geredet wird, sondern auch, sehr zur Empörung der Briten und Franzosen, über Transportwege, die diese nutzen, um ihre Raketen möglichst unauffällig in die Ukraine zu schaffen, als wirklich lockeren Plausch völlig unwahrscheinlich macht. Weil ohne vorherige Absprache und ohne ein ganz und gar nicht einem lockeren Plausch entsprechendes Niveau an Konzentration irgendwo ein Stolperer wäre, ein Zögern dabei, die eine oder andere Information auszusprechen.

Das klärt noch lange nicht die Frage, mit welcher Absicht dieses Gespräch stattfand, und welche Wege die Aufnahme genommen hat, ehe sie letztlich bei RT landete. Es macht alles eher noch ein Stück komplexer.

Es ist aber leicht, diesen Punkt vor der breiten Öffentlichkeit zu verbergen. Weil es um eine Umkehrung der Alltagserfahrung geht, in der das normale Gesprächsverhalten schwer und das ungewöhnliche leicht ist. Jeder, der diese Bedingungen und ihre Folgen nicht kennt, wird die Oberfläche, eben den lockeren Plausch, für die Wirklichkeit halten.

Nebenbei, sollte es sich dabei um einen Versuch gehandelt haben, die politischen Pläne zur Lieferung der Taurus zu durchkreuzen, wäre das das erste Signal dafür, dass auch innerhalb des deutschen Militärs nicht alle bereit sind, sich für die Erhaltung der US-Hegemonie in Stellung bringen zu lassen, und zumindest Einige den Irrsinn erkennen, der sich in Aussagen wie dem jüngsten Versuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron einer "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede zeigt.

Das wäre noch lange keine Lösung der momentanen Lage, in der die drohende Niederlage bisher unbekannte Grade der Panik bei den europäischen Eliten auszulösen scheint, aber wenigstens ein Zeichen der Hoffnung, dass sich unter den vielen Irren noch einige Normale verbergen, die vielleicht, nur vielleicht, das Schlimmste verhindern könnten.

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